Die Ausbildung

Sein Weg aber führte den 15- bis 20jährigen Scribifax

zunächst scheinbar in den Journalismus, weil Tageszeitungen des Bergischen Landes, des Ruhrgebiets und Rheinlands ihn skrupellos Theaterkritiken und Kulturberichte schreiben ließen,

nach seinem Marler Abitur jedoch auf die Göttinger Universität, wo er bei Hanns Niedecken-Gebhard, ominösem Regisseur von Händel-Opern, und bei Eckehard Catholy Theaterwissenschaft studierte und sie mit Germanistik, Anglistik, Kunstgeschichte und Philosophie flankierte. Maßgebliche Professoren waren da vor allem so legendäre Germanisten wie Wolfgang Kayser, Klaus Ziegler und Albrecht Schöne, der Kunsthistoriker Hans Tintelnot und der Historiker Hermann Heimpel.

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Aber der junge Student besuchte nicht weniger emsig jede öffentliche Generalprobe des dortigen Deutschen Theaters unter seinem damaligen Intendanten Heinz Hilpert, der als »Lehrbeauftragter für praktische Theaterkunde« auch ein Seminar für Studenten abhielt, in dem er einen von ihnen, den späteren Regisseur Martin Ankermann, Thornton Wilder's »Unsere kleine Stadt« nicht inszenieren, wohl aber probieren und sich selbst hierbei Anlässe bieten ließ, einzugreifen und Elemente der Regie- oder Schauspielkunst praktisch zu demonstrieren. Unter seinem theaterhistorischen Kennerblick spielte der junge Lunin da die kleine Rolle des Joe Crowell jun. offenbar hinlänglich, um bei Hilperts eigenen Inszenierungen von »Nathan der Weise« und »Des Meeres und der Liebe Wellen« als funktionsloser Probengast eines professionellen Theaters immerhin schon hospitieren zu dürfen.

Trotzdem war in Göttingen die Ausschlag gebendste Begegnung damals der Literaturwissenschaftler Wilhelm Emrich, dem er bald an die Universität Köln folgte und den er dort später zu seinem Doktorvater erkor. Dort hörte und studierte er außerdem bei den Germanisten Richard Alewyn, Josef Quint und Wolfgang Binder, den Theaterwissenschaftlern Carl Niessen und Rolf Badenhausen, dem Philosophen Karl-Heinz Volkmann-Schluck, dem Theologen Helmut Gollwitzer und manchem anderen,

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sah jedoch in Köln oder Düsseldorf, in Bochum oder Marl auch unvergeßliches Theater mit solchen Legenden wie zum Beispiel Elisabeth Bergner, Maria Callas, Hermine Körner, Werner Krauß, Hans Messemer oder Grete Mosheim: abermals leibhaftige Theatergeschichte.

In den Semesterferien vollends sammelte er erste periphere Berufserfahrungen als »Werkstudent« im Kulturamt der Stadt Marl, das unter seinem legendären Leiter Franz Hahn, einem ersten resoluten Förderer dieses Studiosus, ungewöhnlich rege Gastspielaktivitäten entfaltete. Dort lernte er nicht nur allabendlich die meisten westdeutschen Theater und die Dramen ihrer Spielpläne, sondern auch Theaterleute kennen: Dramaturgen, Schauspieler, Regisseure, manchmal gar Intendanten.

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Deren einem fiel er sogar hinlänglich auf, um den 20jährigen als Regie-Assistenten an sein Haus zu engagieren: Boleslaw Barlog, Generalintendant des Berliner Schiller- und Schloßpark-Theaters, damals unstrittig führender Bühne des deutschen Sprechtheaters.


Hier war Lunin nun Assistent so erstrangiger Schauspielregisseure wie Leopold Lindtberg, Hans Lietzau, Erwin Piscator, Heinrich Koch, Willi Schmidt und Boleslaw Barlog selbst, aber auch beim österreichischen Gast Ulrich Bettac, zeitweilig noch Privatsekretär des Titanen Jürgen Fehling und von lauter Elite der deutschsprachigen Theaterkunst, Foto
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auch veritabler Theater- und Filmgeschichte leibhaftig und aufschlußreich umgeben. Als er Heinrich Koch beim nordischen »Peer Gynt« assistierte, wußten beide nicht, was erst fünfzig Jahre später zutage trat: daß sie leibhaftige Vettern dritten Grades, ihre Urgroßväter noch Brüder im dänischen Eckernförde waren.

Künstlerisch am subjektiv eindrucksvollsten und folgenreichsten war da für ihn die Zusammenarbeit mit Hermine Körner, Jürgen Fehling, Klaus Kammer, Willi Schmidt, Joana Maria Gorvin und Hans Lietzau, später auch mit Rudolf Fernau und immer wieder mit den zutiefst bewunderten Gegensätzlichkeiten von Boleslaw Barlog selbst, aber unvergeßlich beeindruckend auch die Begegnungen mit Werner Krauß, Erwin Piscator, Lotte Lenya, Caspar Neher, Hans Söhnker, Martin Held und O. E. Hasse, Boris Blacher und dem »absurden« Dramatiker Arthur Adamov aus dem Kaukasus, mit dem Stummfilmstar Bernhard Goetzke, dem blutjungen Horst Buchholz, dem hochbegabt frühverstorbenen Assistenten- und Regiekollegen Walter Henn und manchem mehr.

Trotz alledem jedoch kehrte er noch einmal an die Kölner Universität zurück, um die allzu praxisferne Theaterwissenschaft als Hauptfach lieber gegen die brauchbarer gewordenen Textanalysen solider Germanistik auszuwechseln und bei Wilhelm Emrich seine Dissertation über »Strindbergs Dramenstruktur« zu schreiben.

Weitere Unterbrechungen oder Ergänzungen des Studiums waren nach und nach

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Gastspielreisen als Regie-Assistent des Berliner Schillertheaters zum Beispiel zum Theater der Nationen nach Paris (noch im Théâtre Sarah Bernhardt) oder auch nach Schweinfurt, wo er aushilfsweise immerhin neben Lucie Höflich, Roma Bahn, Walter Franck und Joana Maria Gorvin mitspielen durfte,

ferner Gastverträge

als Substitut Erwin Pisctors an das Folkets Hus Teater im schwedischen Göteborg und an die Bühnen der Stadt Essen,

als Assistent Hans Lietzaus bei einer Fernsehspiel-Produktion des damaligen Nordwestdeutschen Rundfunks in Hamburg (noch mit Tilla Durieux und der unvergeßlich liebenswerten Melanie Horeschovsky),

außerdem Schauspielunterricht bei Adolf Dell, Doyen des Düsseldorfer Schauspielhauses (damals unter Karl Heinz Stroux),

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dann eine erste eigene Inszenierung an der Studiobühne des Theaterwissenschaftlichen Instituts an der Universität Köln: »Leonce und Lena« von Georg Büchner (mit Hauptdarstellern, die schon bald danach professionelle Schauspieler waren)

und schließlich die Uraufführung des ersten postpubertären Theaterstücks aus eigener Feder, »Der Paternoster«, an der Freien Volksbühne Berlin (Intendant Leonard Steckel) mit einer Nominierung für den (unverliehen bleibenden) Gerhart-Hauptmann-Preis 1959 und vertraglicher Bindung an den Berliner Theaterverlag Felix Bloch Erben.